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„Es muss etwas geschehen“ dass die eigenen Urteile über die Wurzeln der Zustände korrekt
sind – obwohl häufi g nicht einmal feststeht, ob und wie solche
Dass etwas mit der Welt, der Gesellschaft, mit „uns“ nicht (mehr) Urteile überhaupt eindeutig ermittelt werden können.
stimmt, ist inzwischen zu einer Binsenwahrheit in jedem Party-
gespräch geworden. „Die Welt ist aus den Fugen, so geht es
nicht mehr weiter.“ Der Abgesang auf die westliche Gesellschaft, Aber es bleibt stets zu fragen: Besteht überhaupt außerhalb
die Marktwirtschaft, den „Fortschrittsglauben“, die individuelle ideologischer Konzepte ein Problem? Oder besteht es nur,
Lebensautonomie gehört zum guten Ton gepfl egter Unter- weil wir eine bestimmte Deutung von Messgrößen oder Beob-
haltung – aber auch zum moralisch aufmunitionierten Angriff achtungen auf Kosten anderer absolut setzen? Wer nach den
von elitär vordefi nierten Rechtgläubigen gegen Ketzer. „Wir Ursachen von als wirtschaftliche oder gesellschaftliche Fehl-
müssten …“, so beginnen die Ausführungen von selbstgewissen entwicklungen gedeuteten Zuständen fragt, setzt voraus, dass
Besserwissern ebenso wie von verzweifelten Stammtisch- Konzepte wie Gerechtigkeit oder Diversität eine ideologiefreie
diskutanten. Bedeutung haben.
Und genau hier liegt vielleicht eine der Hauptursachen dafür,
dass „die Welt aus den Fugen ist“. Denn ob privater Partyclown,
gewichtiger Intellektueller oder politisch Verantwortlicher: Men-
schen stellen fest, dass etwas global nicht mehr mit dem über- Ideologen haben noch immer
einstimmt, was sie – aus welchen Gründen auch immer – selbst geglaubt, die Menschen zu
für richtig und wichtig erachten, und sie schließen daraus, dass ihrem Glück zwingen zu müssen.
„wir“ die Ärmel hochkrempeln müssen, um das in Unwucht ge-
ratene Weltgewichte wieder geradezurücken: „Es muss etwas
geschehen.“ Dass der Mensch denkt und Gott lenkt, war einst Carl Peter Fröhling
ein Bekenntnis zur Demut vor der Komplexität des Daseins. deutscher Philosoph
Die Idee, dass man die Welt, die Gesellschaft, die Menschheit
neu formatieren müsste, weil sie von sich aus unfähig wäre zu
überleben, ist wohl einerseits Kennzeichen einer narzisstischen
Gesellschaft, andererseits Ausdruck des Verlusts an Grund-
vertrauen in das Dasein an sich.
In der Tat befi ndet sich insbesondere der „aufgeklärte Westen“
in einem Zustand, den frühere Generationen als geistige Hybris
bezeichnen würden. Die Wissenschaften suggerieren ein Niveau Und selbst wo diese Grundlagen konsensfähig geklärt werden
an Gewissheit, das sie in der Praxis nie erfüllen können. Natur- können, besteht die weitergehende Frage, wie damit umzugehen
wissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Entwicklungen, ist. Auch hier steckt der Teufel im ideologischen Detail. Jedes
medizinische Fortschritte und vor allem eine technologische Urteil, ob in den Natur-, Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Geistes-
Revolution nach der anderen schüren die Illusion, dass wir die wissenschaften ist unvermeidlich theorie- und damit ideologie-
Welt im Prinzip im Griff haben oder zumindest theoretisch in behaftet. Selbst in der Physik, dem Aushängeschild der „harten
den Griff bekommen können, wenn wir nur einem Plan A oder B Wissenschaften“, ist nicht ein einziges Experiment denkbar, das
folgen. Trügerisch ist dabei ein wissenschaftstheoretisch nicht nicht komplett auf Theorien beruht – also menschlichen Ge-
zu begründendes Vertrauen in die Aussagekraft und Praxistaug- dankenkonstruktionen, die wiederum Axiome enthalten, welche
lichkeit von Kausalketten, die aus (allzu oft ideologisch vorbe- nicht beweisbar sind, sondern geglaubt werden müssen.
lasteten) Theorien konstruiert oder abgeleitet werden. Sie bilden
den Rohstoff für den mit geradezu religiösem Eifer verfolgten
Aktionismus, der zu einem kennzeichnenden Merkmal unserer Die tiefe Kluft, die in den westlichen Gesellschaften zwischen
Zeit geworden ist. den Trägern des Zeitgeists und ihren Widersachern besteht, be-
ruht zu einem großen Teil auf unbegründeter Selbstgewissheit
und Inkompetenz bezüglich der Begrenztheit unserer Erkenntnis-
Welche Ursache hat eine bestimmte Ungleichheit zwischen Ge- fähigkeit. Wer sich die geradezu apokalyptischen gegenseitigen
schlechtern, Ethnien oder Bildungsschichten in Sachen Einkom- Verunglimpfungen während der Debatte um Corona- und Impf-
men? Welche kausalen Verknüpfungen erklären den Anstieg maßnahmen oder die unversöhnlichen Unterstellungen in der
der Temperatur in der Atmosphäre? Was ist der Grund für die Auseinandersetzung um Maßnahmen zur „Rettung des Klimas“
Expansion des Universums? Wie trägt unsere Wirtschaft (etwa vor Augen hält, kommt nicht umhin, eine an vor-aufklärerische
durch eine profi torientierte Optimierung der Lieferketten) zu den Zeiten der Glaubenskriege erinnernde Debatten-Unkultur fest-
sozialen und ökologischen Problemen in fernen Ländern bei? zustellen. Die einzig unbezweifelbare Klimakatastrophe ist die
Solche Fragen gehen von der stillschweigenden Annahme aus, Diskussionsklimakatastrophe.
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