Page 5 - 43.Kongress_04.November.2024
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„Es muss etwas geschehen“                         dass die eigenen Urteile über die Wurzeln der Zustände korrekt
                                                           sind – obwohl häufi g nicht einmal feststeht, ob und wie solche
         Dass etwas mit der Welt, der Gesellschaft, mit „uns“ nicht (mehr)   Urteile überhaupt eindeutig ermittelt werden können.
         stimmt, ist inzwischen zu einer Binsenwahrheit in jedem Party-
         gespräch geworden. „Die Welt ist aus den Fugen, so geht es
         nicht mehr weiter.“ Der Abgesang auf die westliche Gesellschaft,   Aber es bleibt stets zu fragen: Besteht überhaupt außerhalb
         die Marktwirtschaft, den „Fortschrittsglauben“, die individuelle  ideologischer Konzepte ein Problem? Oder besteht es nur,
         Lebensautonomie gehört zum guten Ton gepfl egter Unter-  weil wir eine bestimmte Deutung von Messgrößen oder Beob-
         haltung – aber auch zum moralisch aufmunitionierten Angriff   achtungen auf Kosten anderer absolut setzen? Wer nach den
         von  elitär  vordefi nierten  Rechtgläubigen  gegen  Ketzer.  „Wir   Ursachen  von  als  wirtschaftliche  oder  gesellschaftliche  Fehl-
         müssten …“, so beginnen die Ausführungen von selbstgewissen  entwicklungen gedeuteten Zuständen fragt, setzt voraus, dass
         Besserwissern ebenso wie von verzweifelten Stammtisch-  Konzepte wie Gerechtigkeit oder Diversität eine ideologiefreie
         diskutanten.                                      Bedeutung haben.



         Und genau hier liegt vielleicht eine der Hauptursachen dafür,
         dass „die Welt aus den Fugen ist“. Denn ob privater Partyclown,
         gewichtiger Intellektueller oder politisch Verantwortlicher: Men-
         schen stellen fest, dass etwas global nicht mehr mit dem über-  Ideologen haben noch immer
         einstimmt, was sie – aus welchen Gründen auch immer – selbst    geglaubt, die Menschen zu
         für richtig und wichtig erachten, und sie schließen daraus, dass   ihrem Glück zwingen zu müssen.
         „wir“ die Ärmel hochkrempeln müssen, um das in Unwucht ge-
         ratene Weltgewichte wieder geradezurücken: „Es muss etwas
         geschehen.“ Dass der Mensch denkt und Gott lenkt, war einst              Carl Peter Fröhling
         ein Bekenntnis zur Demut vor der Komplexität des Daseins.                 deutscher Philosoph
         Die Idee, dass man die Welt, die Gesellschaft, die Menschheit
         neu formatieren müsste, weil sie von sich aus unfähig wäre zu
         überleben, ist wohl einerseits Kennzeichen einer narzisstischen
         Gesellschaft, andererseits Ausdruck des Verlusts an Grund-
         vertrauen in das Dasein an sich.



         In der Tat befi ndet sich insbesondere der „aufgeklärte Westen“
         in einem Zustand, den frühere Generationen als geistige Hybris
         bezeichnen würden. Die Wissenschaften suggerieren ein Niveau   Und selbst wo diese Grundlagen konsensfähig geklärt werden
         an Gewissheit, das sie in der Praxis nie erfüllen können. Natur-  können, besteht die weitergehende Frage, wie damit umzugehen
         wissenschaftliche Erkenntnisse, gesellschaftliche Entwicklungen,   ist. Auch hier steckt der Teufel im ideologischen Detail. Jedes
         medizinische Fortschritte und vor allem eine technologische   Urteil, ob in den Natur-, Wirtschafts-, Gesellschafts- oder Geistes-
         Revolution nach der anderen schüren die Illusion, dass wir die   wissenschaften ist unvermeidlich theorie- und damit ideologie-
         Welt im Prinzip im Griff haben oder zumindest theoretisch in   behaftet. Selbst in der Physik, dem Aushängeschild der „harten
         den Griff bekommen können, wenn wir nur einem Plan A oder B  Wissenschaften“, ist nicht ein einziges Experiment denkbar, das
         folgen. Trügerisch ist dabei ein wissenschaftstheoretisch nicht   nicht komplett auf Theorien beruht – also menschlichen Ge-
         zu begründendes Vertrauen in die Aussagekraft und Praxistaug-  dankenkonstruktionen, die wiederum Axiome enthalten, welche
         lichkeit von Kausalketten, die aus (allzu oft ideologisch vorbe-  nicht beweisbar sind, sondern geglaubt werden müssen.
         lasteten) Theorien konstruiert oder abgeleitet werden. Sie bilden
         den Rohstoff für den mit geradezu religiösem Eifer verfolgten
         Aktionismus, der zu einem kennzeichnenden Merkmal unserer   Die tiefe Kluft, die in den westlichen Gesellschaften zwischen
         Zeit geworden ist.                                den Trägern des Zeitgeists und ihren Widersachern besteht, be-
                                                           ruht zu einem großen Teil auf unbegründeter Selbstgewissheit
                                                           und Inkompetenz bezüglich der Begrenztheit unserer Erkenntnis-
         Welche Ursache hat eine bestimmte Ungleichheit zwischen Ge-  fähigkeit. Wer sich die geradezu apokalyptischen gegenseitigen
         schlechtern, Ethnien oder Bildungsschichten in Sachen Einkom-  Verunglimpfungen während der Debatte um Corona- und Impf-
         men? Welche kausalen Verknüpfungen erklären den Anstieg   maßnahmen oder die unversöhnlichen Unterstellungen in der
         der Temperatur in der Atmosphäre? Was ist der Grund für die   Auseinandersetzung um Maßnahmen zur „Rettung des Klimas“
         Expansion des Universums? Wie trägt unsere Wirtschaft (etwa   vor Augen hält, kommt nicht umhin, eine an vor-aufklärerische
         durch eine profi torientierte Optimierung der Lieferketten) zu den   Zeiten der Glaubenskriege erinnernde Debatten-Unkultur fest-
         sozialen und ökologischen Problemen in fernen Ländern bei?   zustellen. Die einzig unbezweifelbare Klimakatastrophe ist die
         Solche Fragen gehen von der stillschweigenden Annahme aus,   Diskussionsklimakatastrophe.

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