Page 9 - 41.Kongress_06.November.2023

Baustelle Arbeitsmarkt Doch es geht bei der Ausbildung „digitalisierungsfähiger“ Men-
schen nicht nur um fachliche Qualifikationen für Technologien,
Um die kommenden Herausforderungen meistern zu können, Prozesse oder Geschäftsmodelle, sondern um die Entwicklung
sind die beteiligten Menschen der entscheidende Hebel. Ein eines „Mindset“, der die digitale Transformation fördert und an-
zukunftsgerechtes Denken in Alternativen und geistiger Beweg- treibt. Es handelt sich dabei nicht um zu paukende Skills, sondern
lichkeit steht am Anfang aller Bemühungen. Es ist nicht zu ver- um Persönlichkeitsmerkmale, die sich innerhalb der Ausbildung
ordnen, aber Bewusstmachung der Anforderungen kann einen stärken und fördern lassen. Der Unternehmensberater Julian
Erneuerungsprozess voranbringen. Knorr fasst sie in sechs verschiedene Dispositionen zusammen:

Doch der Faktor Mensch tritt in den kommenden Jahren noch • Offenheit und Agilität
auf einem weiteren Problemfeld auf den Plan: dem Bedarf an
qualifizierten Arbeitskräften. Darin sind zwei unterschiedliche • Proaktivität und unternehmerische Handlungsorientierung
Faktoren verknüpft: Qualifizierung und Arbeitskräfte. Es geht
also einerseits um die Bildung und Ausbildung und andererseits • Kreativität und Gestaltungsmotivation
um die Anzahl verfügbarer Menschen.
• Kundenzentriertheit

Im Bildungsbereich beklagen die Unternehmen zunehmend • Kritikfähigkeit
Defizite auf grundlegenden Gebieten wie mathematische und
Kommunikationsfähigkeiten bei den Schul-, aber auch bei den • Offener Umgang mit Scheitern
Studienabgängern. Kommunikation ist dabei keine Fähigkeit zum
Plaudern, sondern Voraussetzung für eine effiziente Teamzusam- Die Handlungsphilosophie in deutschen Unternehmen scheint
menarbeit, insbesondere über Abteilungs-, Unternehmens- und jedoch noch immer von Risikoaversion, Ablehnung von einmal
Kulturgrenzen hinweg. Noch immer scheint auch die universitäre Gescheiterten, mangelnder Kritikfähigkeit und zu geringer Kun-
Ausbildung nicht eng genug mit der Unternehmenspraxis ver- denorientierung geprägt zu sein. Um in eine erfolgreiche Zukunft
zahnt zu sein. Und auch die schulische Bildung steckt in der Kri- starten zu können, gilt es, diesen Defiziten in der Bildung mehr
se: Jeder fünfte Schulabgänger gilt als nicht ausbildungsreif. Fast Aufmerksamkeit zu widmen.
50.000 Jugendliche verließen die Schulen 2021 ohne Abschluss.
Doch auch diejenigen mit Abschluss haben in der Regel gravie-
rende Wissenslücken, selbst bei Grundfähigkeiten wie Rechnen, Es darf auch nicht unerwähnt bleiben, dass die heute über po-
Schreiben oder Lesen. Laut OECD verringerte sich der Anteil der litische Rahmenrichtlinien, die Bildungsinhalte und die gesell-
jungen Erwachsenen mit geringer oder gar keiner Schulausbil- schaftlichen Prioritäten entscheidenden Eliten selbst allzu häufig
dung in fast allen Mitgliedsstaaten, während er in Deutschland den Nachweis dafür liefern, dass sie weder über die fachliche
anstieg. Qualifikation noch den entsprechenden Mindset verfügen – für
kreative Unternehmen ein bitterer Realitätscheck.

Schlecht steht es nach wie vor um „digitale Bildung“, die die
Voraussetzung für die Qualifikation im digitalen Zeitalter dar- Der zweite große Themenkomplex im Zusammenhang mit dem
stellt. Digitale Methoden nehmen in Deutschland viel zu wenig „Faktor Mensch“ ist der demographische Wandel. Das Statisti-
Platz vor allem im schulischen Bereich ein, insbesondere im Ver- sche Bundesamt geht in seiner mittleren Bevölkerungsprognose
gleich zu den USA und Asien. Genau die Fähigkeiten, die der davon aus, dass am Ende des Jahrzehnts die Erwerbsbevölkerung
deutschen Wirtschaft im digitalen Zeitalter eine Führungsposi- um 3,5 Millionen niedriger liegen wird als die knapp 51 Millionen
tion sichern sollen, werden im deutschen Bildungssystem offen- Menschen, die derzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen,
sichtlich vernachlässigt. während der Bedarf vor allem in Berufen in den Bereichen Leh-
re und Ausbildung, Verwaltung, Technologie und Naturwissen-
schaften spürbar steigt. Gleichzeitig demotiviert das deutsche
Renten- und Steuersystem Ehefrauen, Empfänger von Bürgergeld
und ältere Menschen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen.

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