Page 4 - 41.Kongress_06.November.2023
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Die deutschen Unternehmen sehen sich einer seit dem Wieder- Arbeitskräften und Steuerbelastung nicht mehr für internati-
aufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg noch nie dage- onal wettbewerbsfähig. Nur sieben Prozent bezeichneten die
wesenen Zerreißprobe ausgesetzt. Krisen, Hürden, Hindernisse – Bundesrepublik in einer Mitgliederbefragung des Verbands der
von allen Seiten bläst ihnen der Wind ins Gesicht. Und nicht nur Automobilindustrie (VDA) noch als konkurrenzfähig, 88 Prozent
das: Die Atmosphäre in der Gesellschaft ist grundlegend pessi- nicht mehr. „Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Euro-
mistisch geworden. Medien warnen vor dem Super-GAU, werden pas gerät im internationalen Vergleich auf den Abstiegsplatz“,
nicht müde beim Sammeln und Aufbereiten von Schwachstellen, urteilt VDA-Präsidentin Hildegard Müller. Die größten Heraus-
Versäumnissen und Unzulänglichkeiten. Wo noch vor wenigen forderungen sehen die Unternehmen laut der Umfrage aktuell in
Jahren ein Bundeswirtschaftsminister Altmaier im SPIEGEL-In- den hohen Strom- (81,9 Prozent) und Gaspreisen (73,3 Prozent),
terview davon sprach, Deutschland könne 20 Jahre mit einem dem Fachkräftemangel (77,6 Prozent) sowie der Bürokratie (62
Wirtschaftswachstum von zwei Prozent rechnen, scheint es im Prozent) in Deutschland. 28 Prozent der Unternehmen wollen
Jahr 2023 nur noch darum zu gehen, wie groß die Fallhöhe ist, ihre Investitionen ins Ausland verlagern. 14 Prozent möchten
die die deutsche Wirtschaft unter sich hat. ihre Investitionstätigkeiten in diesem Jahr sogar ganz streichen,
weitere 28 Prozent werden ihre Investitionen verschieben. Nur
zwei Prozent der befragten Zulieferer wollen in diesem Jahr mehr
Der Pessimismus kommt nicht von ungefähr und auch nicht aus investieren.
heiterem Himmel. Bereits seit fast zehn Jahren ist das Wachs-
tum der deutschen Wirtschaft Sonderfaktoren wie einer gerade-
zu fahrlässig laxen Zinspolitik und immer neuen Milliarden- In der Tat belegen Studien bereits heute, dass deutsche Unter-
segnungen auf Pump aus Berlin und Brüssel zu verdanken. Doch nehmen ihre Investitionen in Forschung und Entwicklung zurück-
inzwischen haben schwarze Schwäne in dichter Folge zu ge- fahren. Angesichts des Nachholbedarfs auf dem Sektor Digita-
waltigen Verwerfungen in den etablierten Strukturen der Wirt- lisierung ist dies eine bedenkliche Entwicklung. Erheblich mehr
schaft auf nationaler, europäischer und globaler Ebene geführt: statt weniger finanzielles Engagement wäre angesagt, wenn die
Coronapandemie, Ukrainekrieg, Energieversorgungskrise und In- großen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte erfolgreich
flation lassen die Unternehmen seit Jahren nicht mehr zur Ruhe angegangen werden sollen: Alle derzeit kursierenden techno-
kommen und führen zu einem Klima ständiger Unsicherheit und logischen Maßnahmen für Umwelt- und Klimaschutz fußen auf
unplanbarer Entwicklungen. Der Rückgang der Exporte durch einem breit gefächerten Einsatz digitaler Lösungen. Hocheffizi-
eine stockende Globalisierung, politische Spannungen nicht nur ente Maschinen, automatisierte Anlagen und datengesteuerte
mit Russland, sondern zunehmend auch mit einem aggressiv Prozesse sind unverzichtbare Bestandteile zukunftsorientierter
auftretenden China, explodierende Energie- und Rohstoffpreise Unternehmensstrategien.
machen sämtlichen Branchen zu schaffen. Hausgemachte Pro-
bleme wie eine sich verschlechternde Infrastruktur, der demo-
grafische Wandel, Fachkräftemangel, ausufernde Bürokratie und Ohne eine erhebliche Verbesserung der digitalen Infrastruktur,
hohe Steuer- und Abgabenlast verschärfen die äußeren Einflüs- vor allem von Glasfasernetzen und flächendeckend zugängli-
se, und nicht zuletzt bedeuten die drastischen Maßnahmen zum chem und zuverlässigem Internet sowie der umfassenden Imple-
Klimaschutz – darunter auch der Einstieg in die Elektromobilität mentierung von High-Tech-Hard- und Software lassen sich selbst
und eventuell Wasserstoffwirtschaft – für alle Wirtschafts- bescheidene Ziele nicht erreichen und die Position der deutschen
zweige zusätzliche Belastungen. Wirtschaft im internationalen Wettbewerb nicht halten. Dabei
befindet sich Deutschland seit gefühlt 20 Jahren scheinbar im
Digitalisierungsfieber. Die Ex-Kanzler Schröder und Merkel star-
Kein Wunder, dass bei einer Umfrage im Jahr 2022 mehr als teten Gipfel, Offensiven, Initiativen und Roundtables, um unser
90 Prozent der deutschen Industrieunternehmen angaben, sich Land auf die Digitalisierungsschienen aufzugleisen. Doch der
„starken“ bis „existenziellen“ Herausforderungen gegenüber- Zug rollt im Vergleich zu den Mitbewerbern immer noch recht
zusehen. Energiekosten, die um ein Vielfaches über denen der langsam.
Wettbewerber außerhalb Europas liegen, sind einer der Haupt-
gründe für die Sorgen der Unternehmen, insbesondere deshalb,
weil niemand sich in dieser Hinsicht Illusionen hingibt: In den
nächsten Jahren werden die Kosten für Energie nur eine Richtung
kennen: nach oben. Steigende Kosten führen jedoch gleich zu
mehreren unerfreulichen Folgeeffekten: sinkende Investitionen,
Verlagerung der Produktion in Staaten mit günstigeren Herstel-
lungsbedingungen, Drosselung der Geschäftsaktivitäten oder
gar komplette Abwanderung ins Ausland.
Ein Warnsignal sendet auch ein für Deutschland sehr bedeuten-
der Wirtschaftszweig: Die Mehrheit der Zulieferer der Automo-
bilindustrie hält den Standort Deutschland bei Energiekosten,