Page 9 - 32. Kongress des Club Of Logistics
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Die Reserve hat Ruh?



          Angesichts dieser Situation kann es nur befremden, mit welcher Trägheit sich Deutschland – die Politik, die Mei-
          nungsführer, der akademische Betrieb, die Bildungsorganisationen, große Teile der Wirtschaft und die Gesell-
          schaft allgemein – in einer Art Zeitlupe in eine Zukunft bewegt, die zunehmend von einem dynamischeren Ameri-
          ka und einer gewaltigen Technologiedampfwalze aus Asien dominiert wird. Deutschland präsentiert sich derzeit
          als visions-, ideen- und konzeptionsloses Land, dessen politische Zielsetzung sich in Besitzstandswahrung und
          Verfolgung politisch korrekter Zielvorgaben erschöpft. Rückwärtsgewandtes Stillstandsdenken, Realitätsverwei-
          gerung und Ausblendung wirtschaftlicher Notwendigkeiten bilden den Hintergrund dafür, dass die gesellschaft-
          liche Akzeptanz von Unternehmertum und ökonomisch-technologischem Fortschritt sinkt. Unternehmerische
          Freiheit wird ideologischen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit geopfert, ohne dabei zu berück-
          sichtigen, dass sie erst die Voraussetzungen für soziale und ökologische Projekte schafft. Und nicht zuletzt: For-
          schung kann nicht mehr ergebnisoffen erfolgen, sondern muss sich den ideologischen Vorgaben unterordnen.

          Von Aufbruchstimmung angesichts der schwindenden Innovationskraft ist nichts zu spüren. Zwar würden Wort-
          zähler in den Statements der Politiker aller Farbschattierungen in letzter Zeit eine rasante quantitative Zunahme
          des Begriffs „Digitalisierung“ feststellen, aber wer sich diese Aussagen anhört, hat eher den Eindruck, da spre-
          chen Menschen, die innerlich wenig mit dem anfangen können, was sie äußerlich sagen, dass sie nur auf Souff-
          leure hören, die ihnen einflüstern, was wichtig zu sein hat. Wer sich im Vergleich dazu die Rede John F. Kennedys
          zum Start des Apollo-Mondprogramms ansieht, kann den Unterschied geradezu mit Händen greifen: mitreißend,
          Begeisterung weckend, eine Zukunftsvision zeichnend, Kreativität entfachend, zu außergewöhnlichen Anstren-
          gungen motivierend. In Deutschland zerreden die Politiker visionäre Konzepte regelmäßig zu kleinteiligen büro-
          kratischen Prozessen – vielleicht weil dies das Einzige ist, wovon sie im bestehenden System etwas verstehen
          müssen.


          Nicht anders ist es in weiten Kreisen der Gesellschaft. Skepsis gegenüber den neuen Technologien und Geschäfts-
          modellen überlagert die Diskussion über deren Chancen. Ängstlichkeit, Zögerlichkeit und Verzagtheit trüben den
          Blick. Darf man die Zukunft denn überhaupt noch in optimistischen Farben malen, ohne gleich den Vorwurf der
          verantwortungslosen Schwärmerei gemacht zu bekommen? Muss nicht ständig vor Verantwortung schwitzend
          zu Zurückhaltung, Einschränkung, Verzicht und Anerkennung der Endlichkeit der Ressourcen gemahnt werden?
          Geht es nicht vermehrt darum, den Kapitalismus einzuhegen, das Unternehmertum zu bremsen und auf ideo-
          logische Ziele zu verpflichten?


          Deutsche Unternehmer haben sich damit abgefunden, ihren Erfolg verteidigen zu müssen, statt ihn feiern zu
          dürfen. „Profit“ ist eines der am meisten negativ behafteten Begriffe aus dem wirtschaftlichen Umfeld. Ihn er-
          wirtschaftet zu haben, scheint eine Art strafbarer Handlung zu sein, die gesellschaftlich nur durch Ablasszahlun-
          gen in Form von Stiftungen, gemeinnützigen Aktionen und Bekräftigung politisch korrekter Ziele akzeptiert wird.







           „Der alles entscheidende Wettbewerbsfaktor wird in den kommenden Jahren ganz allgemein die Digitalisierung der Geschäftsprozes-
           se sein. Dazu gehört alles, was man unter die Begriffe smarte Prognostik oder künstliche Intelligenz fassen kann, sowie intelligente
           Algorithmen, die dazu führen, dass in allen Wirtschaftsbereichen die Geschäftsmodelle digitalisiert und so grundlegend transformiert
           werden. Wir sind in Deutschland sehr schwach auf  denjenigen IT-Sektoren, die die Definitionshoheit über Chipentwicklung, Algo-
           rithmen oder Betriebssysteme ermöglichen. Da sind wir verglichen mit Amerika und auch mit China sehr schwach. Das Bedenkliche
          ist, dass diese Schwäche immer stärker auf  diejenige Industrien durchschlägt, die sich durch die Digitalisierung radikal verändern, wie
             Automobil- und Maschinenbau. Die Wettbewerbsfähigkeit ist also gerade da besonders gefährdet, wo wir bisher stark sind.“

                                              Sven Gábor Jánszky, Zukunftsforscher







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